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Entdeckungen eines Herdentiers / Découvertes d’un animal de horde – L'!NSENSÉ
Bienvenue sur la nouvelle scène de l'!NSENSÉ
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Entdeckungen eines Herdentiers / Découvertes d’un animal de horde

Geleitet von einer Audioführung begibt man sich mit Remote Avignon, welches vom 8. bis zum 19.Juli geboten wird, auf eine von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) kreiierte Stadtführung die in keines der zahlreichen Theater führt sondern vielmehr die Stadt abseits der bekannten Festival- und Touristenziele erkundet. Dabei lässt man sich auf ein Spiel ein bei dem das Dasein als Mitglied einer Gemeinschaft und das Leben in einer mehr und mehr digitalisierten Welt erforscht wird. // Avec un tour guidé par casque, crée par Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) on a, du 8 au 19 juillet, la possibilité de découvrir la ville d’Avignon loin des nombreux théâtres et des points touristiques. En se faisant, on entre dans un jeu qui fait expérimenter l’être comme membre d’une communauté et la vie dans un monde plus et plus digitalisé. Une des questions principales qui se pose, pendant et aussi après avoir fait partie de Remote Avignon, est „à qui et pourquoi donner sa confiance?“.
In der prallen Mittagssonne versammeln sich fünfzig Personen auf dem Friedhof Saint-Véran in Avignon, ausgestattet mit Kopfhörern. Einer mit rotem T-shirt wird als Person unseres Vertrauens vorgestellt, man dürfe sich an ihn wenden bei Unklarheiten, Panikattacken oder sonstigem Unwohlsein. Ansonsten solle man sich ganz auf seine Kopfhörer verlassen.
Schlechter Empfang. Die von künstlichem Vogelkreischen begleitete Geisterbahnmusik knackst und rauscht bisweilen. Eine freundliche Frauenstimme die an eine Stewardess erinnert erklärt keine Rettungsmaßnahmen sondern fordert mich auf von Trauergesellschaften die mir begegnen könnten respektvollen Abstand zu halten. Dann bittet sie mich ein Grab meiner Wahl zu besichtigen. Dort soll ich mein Alter und überhaupt mich mit dem Verstorbenen vergleichen. Was wohl von dem vor mir begrabenen Körper übrig ist. Sie selbst habe keinen Körper sagt die Stimme. Ihr Name ist Margot. Sie will mein Freund sein. Sie erklärt mir sie sei erzeugt in einem Programm, ihre Worte sind komponiert aus einzeln aufgenommenen Silben. Margot spricht zu mir, ganz im Gegenteil zu den Toten um mich. Stimmt. Genau wie ich per Fernsprechanlage mit diversen Apparaten sprechen kann damit diese tun was ich will. Genau wie mein Navigationsgerät zu mir spricht, nur dass ich dort sogar die Sprache wählen kann.
Margot spricht ausschließlich französisch und möchte mich und die anderen nun gerne wie Tiere behandeln. Wie Tiere behandeln? Sie meint das freundlich, und erklärt uns wir seien zu viele für eine Familie und zu wenige für eine Stadt. Wir erfüllten genau die Anzahl einer Herde. Zuerst sollen wir uns zwischen den Gräbern wie Katzen zum Ausgang schleichen. Das ist ein bisschen beschämend. Aber wir tun es, aus unseren Kopfhörern tönt dazu Katzengemaunze.
Auf dem Parcours den wir nun durch eine Tiefgarage, einen Supermarkt und durch die Altstadt abgehen werden übrigens immer wieder beschreibende Geräusche erklingen. Ein Zug während wir durch den Tunnel gehen, Stimmen des Streiks der 2002 das Festival d’Avignon verhindert hatte während wir, den Anweisungen folgend, einen Demonstrationszug simulieren. Wir werden also auf Entdeckungsreise unserer eigenen Welt geschickt und an manchen Stellen freundlich dafür sensibilisiert dass wir unser Vertrauen in Maschinen stecken. Dass wir Anweisungen folgen die digital erstellt wurden. Dass wir überhaupt oft Anweisungen und Regeln folgen. Im Straßenverkehr, beim Betreten einer Kirche, beim Erhalten eines Diploms. Alte Anweisungen, neue Anweisungen. Miserere nobis.
Das steht geschrieben in der Kirche wo wir uns abkühlen und besinnen können, und in der Margot eine Wiedergeburt erfährt. Sie transformiert sich in Bruno. Bruno bietet mir an, mich ebenfalls zu transformieren, ihm Informationen über mich auf einer Harddisk anzuvertrauen damit man alles in Silben und Worte für eine digitale Stimme verwandeln könne.
Des öfteren wird unsere Herde in Gruppen geteilt. Dann sollen wir uns gegenseitig ganz genau beobachten und werden wieder sensibilisiert, für unsere Scham und für unsere Vergänglichkeit. Einmal schreiben wir in einem Hörsaal auf was von uns übrig bleiben soll wenn wir tot sind. Wir spielen weiterhin mit und ich schreibe etwas sehr pathetisches, das ist peinlich. Aber auch irgendwie schön. Einmal betrachten wir einen kleinen öffentlichen Platz wie eine Bühne, Passanten wie Schauspieler. Man wird, falls man es noch nicht sein sollte, aufmerksam für die Welt als Bühne des Lebens. Ich komme mir vor wie auf einem Lehrpfad, es ist ein bisschen viel der Sensibilisierung an diesem Nachmittag unter der Sonne Südfrankreichs. Am besten gefallen mir dabei die Momente in denen das System hakt. Meistens bin ich versehentlich der Grund dafür. Denn am Empfang liegt es nicht, der ist jetzt sehr gut und Margot und Bruno sehen all unsere Reaktionen vor, so bauen wir keinen Unfall und werden nie ratlos allein in der Stadt gelassen. Aber weil sie französisch sprechen kommt es vor dass ich nicht alle Kommandos verstehe, einmal heißt es man solle den anderen zuwinken aber es ist die Gruppe uns gegenüber die winkt, in meiner Gruppe winke nur ich. Hatte wohl als einzige eine Anweisung überhört und bin nun das schwarze Schaf.
Beim Demonstrationszug der uns die Macht der Masse erfahren lässt indem wir die Straße versperren und Autos am Weiterfahren gehindert werden will ich mich gerade der eben gestellten Frage was Demokratie sei widmen, da steigt meine Begleitperson aus. Wir nehmen unsere Kopfhörer ab und entfernen uns. „Digitale Stimmen werden schon seit Jahren im Theater verwendet. Ich habe schon Sacre de Printemps per Audioguide getanzt. Ich ertrage dieses Geführtsein von programmierten Maschinen und Leuten die denken sie müssten mir etwas beibringen nicht länger“ sagt sie. „Aber gerade darüber wird man sich doch dabei bewusst“ erwidere ich. Sacre de Printemps habe ich noch nie getanzt, auch nicht per Audioguide. „Glaubst du wirklich die ganzen Leute hier wüssten das nicht schon längst?“. Stimmt eigentlich.
Aus der Entfernung beobachten wir die inszenierten, stummen Demonstranten. Wir bemerken dass eine junge Frau die bisher ein Mitglied der Herde zu sein schien diskret ein Schild hochhält für die Autofahrer. Darauf ist das Label des Festival d’Avignon und darunter „Merci de patienter (ça ne dure qu’une minute)“. Es ist also nicht nur eine künstliche Stimme die uns führt sondern auch eine zurechtgebogene Realität die wir erforschen. Mein Eindruck einer zwar etwas zu didaktischen aber ansonsten eigentlich spannenden Entdeckung meiner eigenen Welt in einem Projekt von Vorreitern des Theaters unserer Zeit fällt in sich zusammen. Ich sehe wie sich die jetzt ziemlich hemmungslose Truppe mit dem Gefühl alles sei here and now und herrlich real weiter durch die Stadt arbeitet, und ich komme mir ein wenig vor als hätte mich jemand hinters Licht geführt. Selber schuld.
Ich folge also meiner Begleiterin die mich weg von unserer Herde und durch verwinkelte Gässchen lotst, sie argumentiert weiter gegen den soeben mitgemachten Parcours und mehr und mehr stimme ich ihr zu. Dann beschließe ich zu versuchen ein Ticket für Marthalers King Size heute Abend zu bekommen. Wieder allein ist es plötzlich extrem angenehm selbst über meinen Weg und meine Wahrnehmung zu entscheiden, zumindest ohne direkte Vorgaben. Weder von Rimini Protokoll, noch von Technik die mich umgibt, noch von sonst irgendwem.