Möglichkeiten des Sprechens und Schauspiel / Possibilités du Parler et de l’Acteur
Par les villages, une pièce de l’auteur autrichien Peter Handke, nous confronte sous forme d’un „poème dramatique“ avec des mondes perdus et des mondes à venir. Entre ces deux, autour d’un conflit de famille, Gregor rencontre son frère Hans et sa soeur Sophie à la recherche de sens et de ce que devrait ou pas être transmis. Stanislas Norday, avec Dieudonné Nianounga artiste associé au 67e Festival d’Avignon, souhaite faire de ce texte un poème vivant. Il entend la pièce comme „une ode aux humiliés et aux offensés“ et aussi à l’art de l’acteur.
Der Innenhof des Papstpalastes (Cour d’honneur) ist eine Bühne wie sie Stanislas Nordays Vorstellungen entspricht. Was Kino und Theater voneinander unterscheide sei der „physische Schock“1 den man bei letzterem erlebe, umso mehr an diesem beeindruckenden Ort inmitten von zweitausend anderen Zuschauern und umgeben von hohen Mauern über denen am Himmel die Vögel kreisen. Freilich ist dies ein Effekt den das Publikum des Cour d’honneur allabendlich erleben kann. Für Norday ist das direkte Aufeinandertreffen von Akteuren und Zuschauern zudem Hauptmotiv seiner Inszenierung von Handkes Über die Dörfer. „J’ai la passion du public, je fais du théâtre pour lui. Il est mon partenair principal!“2. In diesem Punkt unterscheidet er sich maßgeblich von Autor Handke. Jedenfalls äußert der in einem, zwar schon 1967 gegebenen, Interview er denke nicht über das Publikum nach sondern über sich, darüber was ihm selbst noch nicht bewusst sei. Dieses müsse auch dem Publikum bewusst gemacht werden.
Auf Nordays Suche nach einem Stück wurden Prinzen und Könige sofort aussortiert, er sucht die Stimme eines Arbeiters. Brecht ist ihm zu demonstrativ. Handke selbst erklärte, selbst Beckett und Brecht hätten nichts mit ihm zu tun3. Es müsse einem unserer Zeit angemessenen Theater Raum geschafft werden. Handke ergreift deshalb selbst das Wort und veröffentlicht 1981 beim Suhrkampverlag Über die Dörfer. Dreißig Jahre später fällt Nordays Wahl auf dieses Stück. Wenn Brecht und Becketts Stücke in den achziger Jahren bereits nicht mehr der Zeit entsprachen, kann Handke uns im Jahr 2013 noch entsprechen? Ja, findet Norday, denn dieser Text spricht über und von uns allen, und er spielt an den Orten unserer Zeit.
Norday, seine Truppe und das Festivalpublikum begegnen sich also am hellichten Tag, bevor die abendliche Dunkelheit und das damit verstärkte Scheinwerferlicht die Bühne hervorhebt und das Publikum unsichtbar macht. Man ist zumindest bereit ist für vier Stunden geteilte Zeit. Wenn es nach Norday ginge bildete man nicht nur eine momentane Gemeinschaft sonder auch eine Gesellschaft in der Führungspositionen, gerade an Kulturinstitutionen, als Kollektiv besetzt würden. In der Menschen gegen Unrecht auf die Barrikaden gehen würden. Die Medienpräsenz des, neben dem kongolesischen Autor und Regisseur Dieudonné Niangouna, zweiten Artiste associé ist mit derartiger Mühe und Fleiß erarbeitet dass man geradezu überflutet wird mit seinen Stellungnahmen dieser Art. Es geht viel um (Kultur-)Politik in den Interviews mit Norday die in Avignon derzeit überall zu finden sind, wiederholt auch um das Besetzen von öffentlichen Plätzen um gegen Unrecht vorzugehen. Anstatt in den nächsten Flieger nach Istanbul zu steigen macht Norday aber Theater. Und wir gehen hin, ebenfalls anstatt in den nächsten Flieger zu steigen. Dort finden wir uns in einer Situation wieder die der guten Idee von der Gemeinschaft eigentlich zu widersprechen scheint, dafür aber klassischem Theater sehr gut entspricht. Auf der einen Seite zweitausend Zuschauer und auf der anderen ein einzelner. Der wird uns was erzählen von uns, in der Sprache unserer Zeit. Wir sind ja sein Hauptpartner.
Gregor (Laurent Sauvage) kehrt auf das Erhalten eines Briefes seines Bruders Hans (Stanislas Norday) in sein Heimatdorf zurück. Das an Gregor vererbte Gut der Eltern soll verkauft werden um der Schwester Sophie (Emmanuelle Béart) zu ermöglichen eine eigene Existenz aufzubauen. Der Arbeiter und die Angestellte vom Lande treffen auf den intellektuellen Heimkehrer. Der kommt zurück aus der weiten Welt und wird begleitet von Nova (Jeanne Balibar), dem Geist des neuen Zeitalters. Den Konflikt um die Familienangelegenheit begleitet eine allgemeine Sinnsuche.
Eine der Hauptfragen die Norday dabei beschäftigt ist: Was ist wert, überliefert zu werden? Tatsächlich eine Frage die interessiert. Unsere Existenz und permanente Anwesenheit in einer digitalen Parallelwelt ist kaum mehr wegzudenken aus der realen. Beruflich und geographisch besteht die Möglichkeit (der Zwang?) zu absoluter Flexibilität. Gesellschaftliche Ordnungen der Heimat können mit etwas Mut getrost überschritten werden. Es stimmt also. Wozu an etwas festhalten. Und an was.
Zum einen also die Welt des Vergänglichen und des Fortschritts, der schnellen Erneuerung und Verbesserung. Zum anderen die des Dorfes, da ist es „zehntausend Jahre vor unserer Zeit, und es ist unsere Zeit“4. „Die Steinblöcke wurden zu Terrassenmauern geschichtet, und auf dem steinfreien Erdreich stehen jetzt Obstbäume, oder es wächst einfach nur Gras, von dem aber jeder einzelne Fleck seinen besonderen Namen hat. (…) Ich sehe auf jedem unscheinbaren Arbeiterhaus in jedem noch so entlegenen Dorf eine Firmen- oder Bankplakette blinken, und jedes Haus in der Landschaft als ein Geschäft (…)“5. Tatsächlich, so ist das mancherorts. Ich kann das bezeugen, denn aus solch einem Ort komme ich auch. Und beim Lesen erkennt man sogar einige Menschen wieder. Die drei Arbeiter zum Beispiel. Einer ist „knieweich vom Tag im Lehm und Grus, rotzschniefend, schleimhustend, der wird in seinem Dorf verehrt“. Einer spricht abends nach Sendeschluß „mit großem Gluckern (…) irgendwo im Finstern und sagt so: ‘Baustelle, Tal, Land, Erde unten, Sterne oben, hört her, ich bin’s’“. Sie bekommen „Entfernungs-, Gefahren- und Schmutzzulagen“ und schlachten ein Schwein für den Winter. „Wir sind unsern Kindern gegenseitig die Taufpaten und füreinander die Sargträger“6. Ich kenne diese Leute sozusagen persönlich, sie sind so alt wie ich, manche auch jünger oder viel älter. Vielleicht geht das den anderen Zuschauern an diesem Abend ebenso, vielleicht erkennen wir uns alle ein wenig in Gregor wieder. Wie könnte uns Handkes Text da nicht interessieren.
Über die Dörfer trägt den Untertitel Dramatisches Gedicht. Die Inszenierung beginnt mit langer Stille. Gregor steht allein mitten auf der Bühne. Dann kommt Nova.
Und es beginnt ein Gedicht das aus langen Monologen Selbstgespräche und solche zwischen zwei oder mehr Personen baut. Sofort wird es tatsächlich zu einem „lebenden Gedicht“ („poème vivant“) wie Norday es angekündigt hat: Auf der weiten Ebene der Bühne, die von einigen Containern umrahmt wird welche die Großbaustelle andeuten, werden hin und wieder klar gezeichnete Positionswechsel durchgeführt. Einer spricht, ein anderer hört zu. Zwar nicht natürlich, sondern in höchstem Maße stilisiert, aber damit in Schlichtheit die nie die Aufmerksamkeit vom gesprochenen Text ablenkt. Langsam aber beharrlich, Wort für Wort, rollt das Stück sich zu einem Epos auf.
Vor einigen Tagen war im Rahmen der Berliner Festspiele ein anderer, ebenfalls beinahe vierstündiger Epos unserer Zeit zu sehen. Life and Times – Episode 1 des Nature Theatre of Oklahoma setzt die am Telefon erzählten ersten Lebensjahre einer Tochter der oberen Mittelschicht in den USA in Musik und Gesang um. Durch andauernde Unterhaltung wird da die Welt wie sie hier und jetzt ist karikiert und vom Zuschauer nach Belieben hinterfragt. Im Programmheft steht „Das Epische ist gekennzeichnet durch seine erzählende Haltung, durch die direkte Ansprache des Zuhörers, durch die ermüdend ausführliche Darstellung einzelner Gegebenheiten und eine gewisse Lust am Verweilen. (…) Jedes Füllwort, jedes ‘anyway’ wird zu einer Setzung. Wie in allen Epen werden auch die banalsten Geschichten so allegorisch und kollektiv: Es geht immer auch um uns.“7 Über die Dörfer ist wahrlich kein Entertainment. Ansonsten aber trifft die Beschreibung auch an diesem Abend zu.
Was im Spiegel nach der Uraufführung von Über die Dörfer 1982 bei den Salzburger Festspielen unter der Regie von Wim Wenders kritisiert wurde ist an diesem Abend, zumindest für den ersten Teil der Inszenierung, nicht der Fall. Dort steht: „Wenn Gregor im dunklen Erlösungs-Deutsch fortfährt (…), dann scheint die Grenze vom hohen Pathos zur bloßen Lächerlichkeit unumkehrbar überschritten zu sein. (…) Gregors Vorrat an abgestandenen Weihwassern scheint unerschöpflich zu sein.“ Gregor wird außerdem vorgeworfen er trage mit sich einen „Tränensack der süßlichen Wiegenlieder“8.
Auf die Frage ob Handke wohl ein Utopist sei antwortet Michael Roloff, ehemaliger Handke-Übersetzer ins Englische: „ Ein bisschen schon, sonst nicht all dieses Pathos. Speziell in Novas hölderlinähnlicher Hymne (…). Intrapsychisch gesehen ist das ein Wissen um die Unmöglichkeit der Erreichbarkeit des Ideals“9. Und es ist nicht die Textvorlage die in Nordays Inszenierung Probleme bereitet. Er inszeniert ein Theater der Sprache und sieht Über die Dörfer als eine „Ode an das Schauspiel“. Es stellt sich aber dann die Frage was Schauspiel sei.
In einem Interview von 1967 mit dem jungen Handke sagt dieser es gehe ihm um die Möglichkeit des Sprechens. Nicht um „Clownerie“. Man verlasse sich noch zu sehr auf die Mittel des alten Theaters. Er sagt das ein Jahr nachdem sein Stück Publikumsbeschimpfung unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführt wurde und damit Handkes Theateransatz etabliert. Man wünscht sich an diesem Abend oft Norday würde Handkes Meinung diesbezüglich teilen. Anstatt dessen wird man nach einigen Szenen den Eindruck nicht los ein Museumsstück Theater zu begutachten. Auch die Begleitmusik, welche zum einen die Empfindungen der Figuren auf der Bühne doppelt und zum anderen jene des Zuschauers lenken will, steht der Wahrnehmung für die « Möglichkeit des Sprechens » im Wege. Das geht auf Kosten des Texts.
Emmanuelle Béart sei Dank, sie macht sich als einzige neben Laurent Sauvage frei von operngleichen Schauspielübungen die man für überkommen gehalten hatte und die tatsächlich riskieren die „Grenze der bloßen Lächerlichkeit“ zu überschreiten. Ganz ohne geschwellte Brust, ohne zitternd gen Himmel erhobene Hände, fast ohne Tränen, ohne Niederknien und ohne Steh- und Spielbein-Wechsel (der dann doch an Prinzen und Könige und weniger an Helden der Arbeit erinnert) bewegt sie sich auf der Bühne.
Selbst von weitem ist ihr maskenhaftes Gesicht zunächst erschreckend. Béart ist selbst das Bild für die Absicht Vergangenes festzuhalten. Gregor lernt aus der Entfernung den Ort seiner Herkunft lieben und kehrt zurück um die Vergangenheit festzuhalten. Béart versuchte das selbe mit ihrer Schönheit und scheitert wie Gregor. In diesem Scheitern sind beide menschlich, und das erreicht den Zuschauer auf den Rängen mehr als vorgeführtes Engagement. Béart belässt es dabei, ohne Nachdruck sondern mit der Stimmkraft eines Schauspielers und ansonsten mit Natürlichkeit, Handkes Text für Sophie wiederzugeben, der dann allein seine Wirkung tut.
1 Conférence de Presse, 05/07/2013
2 Interview Télérama, 03/07/2013
3 Saalprogramm Cour d’honneur 10/07/13 Par les villages, Festival d’Avignon
4 S.19, Über die Dörfer, Suhrkamp Verlag, Ausgabe 2002
5 S. 18, s.o.
6 S. 36, s.o.
7 Florian Malzacher
8 DER SPIEGEL 31/1982 ;Christian Schultz-Gerstein über Peter Handke: Über die Dörfer
9 http://www.begleitschreiben.net/schoen-wie-so-vieles-michael-roloff-zu-peter-handke-i/